CO-Valenzschwingung in hauptsächlich σ-gebundenen Carbonyl-Addukten A←C≡O

Fehlt eine π-Rückbindung, die über eine Verminderung der C-O-Bindungsordnung die C-O-Valenzschwingungsfrequenz senkt, sollte auf den ersten Blick keine Änderung der Schwingungsfrequenz des freien Kohlenmonoxids erwartet werden. Carbonylspezies wie das HCO+-Kation, H3B←C≡O (Carbonylboran) oder Carbonylkupfer(I)-Verbindungen wie CuCl(CO) und die meisten der unstabilen Carbonylmetallkationen mit Metallen in höheren Oxidationsstufen zeigen jedoch gegen diese Erwartung CO-Valenzfrequenzen, die einer mehr oder weniger erhöhten Anregungsenergie entsprechen als beim freien CO. H3B←C≡O gehört zur „weniger“-Gruppe; seine C-O-Valenzschwingungsfrequenz ist mit 2167 cm−1 etwas höherfrequent als bei freiem CO (2143 cm−1). In [carbonyl_sigma_1996] werden zwei Ursachen diskutiert, die beide auch für andere Liganden gelten.

Die erste ist elektrostatischer Natur. Wird dem C-Atom des Kohlenmonoxids durch eine benachbarte positive Ladung oder einen Bindungsparner Ladungsdichte entzogen, so werden alle Orbitalenergien abgesenkt, die Bindungselektronen sind stärker zwischen den Atomrümpfen lokalisiert, CO wird „N2-ähnlicher“. Bei der Bindung von CO an Kationen wie H+ ist der Effekt deutlich, bei dem weniger elektronen­ziehenden Neutralmolekül BH3 ist er schwächer. Die Autoren leiten ab, dass es keinen über den elektrostatischen Einfluss hinausgehenden Effekt der σ-Bindung zwischen Kohlenstoff und dem zweiten Bindungspartner gibt. Die ebenfalls erhöhte Schwingungsfrequenz des CO+-Kations unterstreicht diese Interpretation. (CO+ und HCO+ sind gut untersucht, da Sie in interstellarer Materie auftreten, zum Beispiel in Kometenschweifen.)

Der zweite Effekt ist noch genereller und trägt stets zu Abweichungen zwischen Schwingungsfrequenzen freier und gebundener Moleküle bei: Molekülfragmente schwingen nicht unabhängig vom Rest des Moleküls. Eine computerchemische Rechnung (mp2/tzvp) an Carbonylboran zeigt das Prinzip:

Die Animation zeigt, dass bei der (sogenannten!) C-O-Valenzschwingung nicht nur gegen die C-O-Kraftkonstante Arbeit verrichtet werden muss, sondern dass bei einer C-O-Bindungsverkürzung zugleich eine B-C-Bindungsaufweitung stattfindet (und umgekehrt). Die beobachtete Frequenz ist also durch zwei Kraftkonstanten bestimmt, derjenigen der C-O- und der (kleineren) der B-C-Bindung (wie kann man diese ermitteln?). Aufgrund dieses Effektes sollte also generell die Schwingungsfrequenz eines Liganden größer werden, wenn eines der schwingenden Ligandatome an einen zusätzlichen Bindungspartner gebunden wird.

Noch eine Anmerkung zum Carbonylboran: Dass überhaupt keine π-Rückbindung auftritt, sollte so nicht behauptet werden. Denkbar ist eine Wechselwirkung zwischen den Elektronenpaaren der B-H-Bindungen und den CO-π*-MOs („Hyperkonjugation“, „agostische Bindung“). Der Effekt sollte jedenfalls klein sein. Im Haupttext wird so etwas näher betrachet.

Literatur

[carbonyl_sigma_1996]
A. S. Goldman, K. Krogh-Jespersen:
Why Do Cationic Carbon Monoxide Complexes Have High C–O Stretching Force Constants and Short C–O Bonds? Electrostatic Effects, Not σ-Bonding.
J. Am. Chem. Soc. 1996, 118, 12159–12166.
doi: 10.1021/ja960876z